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Tag 24 – Wie ich fast an der Grenze gescheitert wäre

11:24
25.07.2023
Morgens, acht Uhr, am Grenzübergang im polnischen Korczowa. Eine streng dreinblickende Grenzbeamtin kommt auf mich zu und spricht mich auf polnisch an. Ich verstehe sie zwar nicht, doch sie hat die Art Blick drauf, die einem sagt: Wir haben ein Problem. Große Hinweistafeln weisen Autos und Bussen ihre Spuren zu, doch auf Radreisende ist dieser riesige Grenzübergang offenbar nicht ausgelegt. „Stay here“, befielt mir die Frau und zeigt auf eine Ecke, „dont go away!“

Ich folge ihren Anweisungen, doch ihre nächste Aussage löst Besorgnis bei mir aus: „You cant cross the border with a bike.“ Ich bin verdutzt. Damals, 2018 auf dem Balkan, hatte ich mehrfach harte Grenzen außerhalb des Schengenraums durchradelt; damals hieß es einfach nur, an den langen Autoschlangen vorbeifahren, zu Fuß den Pass vorlegen und passieren. Doch die zwar höfliche, aber bestimmte Grenzbeamtin gibt mir zu denken. War es das jetzt? Soll meine Reise nach Kiew an einer polnischen Verwaltungsvorschrift scheitern?

Ein Sprung zurück. Drei Tage zuvor bin ich zusammen mit Wolodomyr und seiner Freundin Barbara von Krakau aus aufgebrochen. Zuerst gibt es ein herzhaftes Radfahrerfrühstück, dann begleiten mich die beiden auf den ersten 35 Kilometern. Der gebürtige Ukrainer, der seit einem Jahrzehnt in Krakau lebt und in der IT tätig ist, ist leidenschaftlicher Radreisender. Mit ihm habe ich mich ausführlich über meine Route für die nächsten Wochen unterhalten und diese angepasst. Wolodymirs nächstes Projekt: Eine Woche mit leichtem Gepäck durch die Wildnis Kirgististans mit Anstiegen auf Tour de France-Niveau. Seine kasachische Partnerin macht keine so krassen Touren, doch die beiden haben auch zusammen Spaß auf kleineren Wochenendtripps. So wie heute.

Tom Rüdell

Michael Merten Frühstück bei Barbara und Wolodymyr

Wo Polen mich überrascht hat

11:27
25.07.2023
An dieser Stelle muss ich meine Einschätzung von vor einigen Wochen revidieren. Denn es gibt sie vereinzelt auch in Osteuropa: Richtig schöne Radwege sowie eine halbwegs durchdachte städtische Radinfrastruktur. Schon Prag hatte mich da positiv überrascht. Auch im liberalen Krakau denkt man verkehrspolitisch recht fortschrittlich, hier gibt es einige wirklich gelungene städtische Radwege, rücksichtsvolle Autofahrer – es macht Spaß, hier zu fahren. Natürlich gibt es auch die Schattenseite: Enge, beschädigte Radwege, die alle paar Meter von Ausfahrten unterbrochen werden, die einen permanent ausbremsenn oder die einfach im Nichts enden.

Doch jetzt, auf dem Weg heraus aus Krakau, kann ich mich wirklich nicht beklagen. Sehr bald sind wir auf dem bequemen Radweg entlang der Weichsel, der mal auf einem Damm entlang, mal durch den Wald führt. Ich genieße die Gesellschaft von Barbara und Wolodymir. Als sie sich verabschieden, stimmt der 41-Jährige mich auf die Grenze ein. „Die werden dich mit deinem Fahrrad anschauen und sagen: bist du verrückt?“ Dann muss Wolodymir lachen und rät mir: „Vielleicht sagst du denen einfach: Yes, I am crazy!“

Mein Ziel: Ich will nach drei Tagen in Lviv ankommen, das sich früher Lemberg nannte, als die Gegend noch unter dem Namen Galizien bekannt und Teil des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaats war. Heute ist Lviv die wichtigste Stadt im Westen der Ukraine. Um dorthin zu gelangen, muss ich ordentlich strampeln. Am ersten Tag sind es recht flache 137,1 Kilometer, am nächsten Tag wellige 136,9 Kilometer durch ländliche Gegenden. Hinter Debica hört der Radweg auf, stellenweise muss ich auf autobahnähnlichen Straßen fahren. Später führt mich die Route dann wieder durch das ländliche Polen, wo Störche sich auf zahlreichen Strommasten Nester gebaut haben. Ich beobachte sie und sehe um die nächste Kurve Hühner frei herumlaufen. Welch eine Idylle! Doch schon sehe ich den nächsten überfahrenen Igelkadaver am Straßenrand liegen, der mich aus meiner Naturromantik herausreißt. An meinem letzten Abend in Polen zelte ich auf einem Campingplatz knappe zehn Kilometer von der Grenze entfernt.

Tom Rüdell