Mit besorgtem Gesichtsausdruck schaut Zhanneta auf ihr Handy. Auch mein Telefon hat sich mit einer lauten Sirene gemeldet: In weiten Teilen der Ukraine herrscht Luftalarm. Darüber informiert eine übersichtlich gestaltete App, die auch Hinweise über die nächstgelegenen Luftschutzbunker gibt. Doch hier in Wynnyky, einem 30.000-Einwohner-Ort in der Nähe von Lviv, gibt es nicht so viele Möglichkeiten wie in Kiew, wo die Menschen Schutz in den Metrostationen suchen. Wir könnten in den Keller gehen, was meine Gastfamilie in den ersten Kriegsmonaten gemacht hat. Doch der 18-Jährige Artem hält nicht viel davon. Wenn hier, im ländlichen Wynnyky, eine Rakete einschlagen würde und das Haus treffen würde, wäre man dann im Keller viel besser dran als im Erdgeschoss? "Hier würde man erschlagen werden, aber da unten würde man irgendwann unter den Trümmern ersticken. Lieber schnell sterben als langsam", sagt Artem mit einer Selbstverständlichkeit und Unbedarftheit, die absolut nachvollziehbar ist, mich aber betroffen macht. Dass so ein ruhiger, aufmerksamer und höflicher junger Mensch sich derartige Gedanken machen muss, das sollte nicht sein. Doch Artem, der neben seinem Studium alternativer Energien zwei Sommerferienjobs hat und fleißig Geld beiseite legt, um sich seine Träume vom eigenen Business erfüllen zu können, ist abgeklärt, wie so viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer, für die das Leben irgendwie weitergehen muss. Man passt sich an, erklärt er; man muss sich anpassen, bekräftigt er.
Derweil hat Zhanneta, Artems Tante und die Mutter der in Luxemburg lebenden Nataliia, über einen WhatsApp-Kanal mehr Infos darüber herausbekommen, was gerade passiert. Menschen posten dort, wenn sie Drohnen oder Flugzeuge entdecken. Zhanneta, eine Mathematikprofessorin an der Universität Lviv, überschlägt kurz im Kopf und sagt dann, dass bis zu 72 Raketen niedergehen könnten. Später wird es bei Spiegel Online heißen: "Russland überzieht Westukraine mit Angriffen – Luftabwehr fängt 36 Marschflugkörper ab". Eine Nachricht, wie auch ich sie jeden Tag so oder ähnlich auf wort.lu mitbekommen habe. Jetzt ist die Erfahrung freilich eine andere.
Zhanneta verfolgt das Amgriffsgeschehen sehr aufmerksam. In der Warnapp kann man einstellen, für welche Region man benachrichtigt werden möchte. Doch selbst an Tagen, wo es in der Region Lviv ruhig ist, liest sie in den Chats mit und sorgt sich um die Menschen in anderen Landesteilen. "Ich schlafe dann nicht gut", sagt die 55-Jährige, doch das Elend ignorieren, das kann sie nicht.
Zwei angenehme Tage verbringe ich bei Nathaliias Familie. Dass ihr Vater und ihre Großmutter kein Englisch sprechen, macht es komplizierter, doch am zweiten Tag installiere ich eine Übersetzungsapp, bei der man Gesprochenes binnen Sekunden übersetzt bekommt. So können wir uns am Küchentisch formidabel unterhalten. Die 78-Jährige, mittlerweile im Rollstuhl sitzende Frau beklagt, dass sie sich nicht mehr nützlich machen kann wie früher. Sie zeigt mir ihre Marienikonen, und jetzt kann ich mit meiner Messdienerzeit punkten: Spontan trage ich ihr zwei der beliebtesten Marienlieder in meinem Heimatdorf vor: "Maria breit den Mantel aus" und "Wunderschön prächtige". Das rührt die Frau zu Tränen und auch ich bin ergriffen.