Mir bleibt nicht viel Zeit, um all das genauer zu betrachten, denn ich muss zügig durch die Mittagshitze strampeln. Um 15.30 Uhr habe ich eine Verabredung an einer Tankstelle zehn Kilometer vor Lviv. Möglich gemacht haben das zwei Ukrainerinnen, die in Luxemburg leben: Iryna und Nataliia sind seit Tagen meine aktivsten Supporterinnen. Beide sind in der ukrainischen Community im Großherzogtum engagiert, aber sehr gut vernetzt, weshalb einige Radfahrerinnen und Radfahrer für heute Nachmittag zur „Tour de Lviv“ aufgerufen haben.
So erwarten mich für junge Männer an der Tankstelle und begleiten mich auf dem Weg in die Stadt. Dort angekommen, werden wir von weiteren Mitgliedern der lokalen Fahrradszene und einem Vertreter der Stadtverwaltung begrüßt. Alle sind dankbar, dass ich den weiten Weg auf mich genommen habe, um mich solidarisch mit ihrem Land zu zeigen. Ich bin dankbar und gerührt für den Empfang. Und denke zugleich an die vielen Ehrenamtlichen bei LUkraine, die so viel mehr Hilfsarbeit leisten als ich, aber nie im Vordergrund stehen. Menschen wie Thomas, der gerade in Kiew unterwegs ist und Hilfsgüter ins Land gebracht hat. Oder Anders, ein in Luxemburg lebender Schwede, der gerade im Heimaturlaub ist, aber bereits den nächsten Konvoi von fünf Fahrzeugen nach Dnipro organisiert.
Nataliia hat mir eine Schlafmöglichkeit bei ihren Eltern organisiert, die etwas außerhalb von Lviv leben. Liudmyla, eine begeisterte Mountainbikerin, muss in dieselbe Richtung und begleitet mich ein Stück des Weges. Unsere Stimmung ist so gut wie das abendliche Sommerwetter, als sie mir einige Sehenswürdigkeiten zeigt, darunter den Lytschawiwski-Friedhof aus dem 18. Jahrhundert, eine große grüne Oase in der Stadt mit prachtvollen Grabsteinen und verschlungenen Wegen.
Dann wird Liudmylas Blick traurig. „Ich zeige dir jetzt den Soldatenfriedhof“, sagt sie und führt mich ein paar Meter weiter. Was ich dort sehe, haut mich fast um: Auf einem großen Feld im Schatten des historischen Friedhofs wehen unzählige Flaggen auf einem riesigen Gräberfeld. Es sind die Gefallenen dieses Krieges, ihre Holzkreuze sind noch nicht verwittert, die blau-gelben Flaggen und die Fahnen ihrer Bataillone leuchten noch sehr kräftig. Fast jedes Grab ist mit einem Foto des Gefallenen versehen. Ich blicke in die Gesichter von tatkräftigen jungen Männern, die mitten im Leben gestanden haben. „Auch ein Freund von mir liegt hier“; sagt Liudmyla. Nach einer Weile frage ich sie, ob wir sein Grab besuchen sollen, doch sie winkt ab; „nicht heute“. Die Gefühlsaufwallung ist ihr anzumerken, doch sie führt mich lieber weiter und verabschiedet sich wenig später.
Die Konfrontation mit diesem Gräbermeer beschäftigt mich noch lange. Umso froher bin ich, dass ich von Nataliias Eltern und ihrer Großmutter herzlich aufgenommen werde. Mein erster Tag in der Ukraine endet mit vielen bewegenden Eindrücken. Meine Charity Bike Tour ist in die entscheidende Phase getreten.