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Ukraine: Tausende in Charkiw ohne Obdach - Weitere russische Angriffe

10:04
19.10.2022
In der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw sind den örtlichen Behörden zufolge mehr als 150.000 Einwohner nach monatelangen russischen Angriffen ohne Dach über dem Kopf. „Viele von ihnen haben die Stadt verlassen, sind in die Westukraine oder in andere Gebiete oder ins Ausland gereist“, sagte Bürgermeister Ihor Terechow der Agentur Unian zufolge am Mittwoch. Viele seien aber geblieben. „Da Charkiw vor dem Krieg als Studentenhauptstadt der Ukraine galt, stellen wir Menschen, die nirgendwo leben können, die Wohnheime zur Verfügung und versorgen sie mit allem Nötigen.“

Die Stadt Charkiw mit - vor dem Krieg - etwa einer Million Einwohnern liegt knapp 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Russland führt seit dem 24. Februar einen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Das UN-Nothilfebüro (OCHA) in Genf hatte Anfang Oktober mitgeteilt, dass in den von der Ukraine zurückeroberten Gebieten um Charkiw Schätzungen zufolge rund 140 000 Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien. Die meisten Menschen hätten kaum Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Gas, Strom und medizinischer Versorgung.

Terechow berichtete auch von neuen russischen Angriffen. „Acht Raketen wurden in verschiedene Bezirke von Charkiw gefeuert“, sagte der Bürgermeister. Unter anderem sei ein Lager mit Hilfsgütern zerstört worden. Angaben aus dem Kriegsgebiet lassen sich kaum unabhängig überprüfen.

Auch andere Orte in der Ukraine sprachen von weiteren Attacken. So seien in Kriwyj Rij im Gebiet Dnipropetrowsk zahlreiche Bereiche nach einem russischen Angriff auf die Energieinfrastruktur ohne Strom, teilten die örtlichen Behörden am Mittwoch mit. Russland hatte zuletzt gezielt die Energieinfrastruktur des Nachbarlandes ins Visier genommen. In der Hauptstadt Kiew gab es hingegen erstmals seit mehr als einer Woche 24 Stunden am Stück keinen Luftalarm.

Russland berichtete seinerseits von ukrainischen Angriffen unter anderem auf ein Verwaltungsgebäude der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja. Zudem sei ein ukrainischer Versuch abgewehrt worden, das russisch besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern. Auch dies ließ sich nicht unabhängig prüfen.

dpa

Putins „Kanonenfutter“ - Rekruten kehren in Särgen aus Ukraine heim

08:49
19.10.2022
Für Viktoria ist der Krieg in der Ukraine seit fast einem Monat nun auch in ihrem kleinen Appartement im Moskauer Gebiet ganz nah. Ihren Bruder hat die russische Armee direkt vom Arbeitsplatz im Gebiet Rostow abholen lassen. „Er soll im Donbass kämpfen, was für ein Alptraum“, sagt die 37-Jährige. „Ich kann gar nicht mehr schlafen.“ Viktoria weint, zittert nicht nur um ihren Bruder, sondern auch um ihren Mann Andrej. Das Paar hat einen anderthalb Jahre alten Sohn. Die Einberufungsstelle im Gebiet Rostow am Don, wo Andrej noch gemeldet ist, sucht ihn schon.

Den beiden geht es wie vielen in Russland. Landauf, landab klagen Frauen mit kleinen Kindern in den Foren der Behörden oder in sozialen Netzwerken, die Ernährer der Familie würde nun wegfallen. Sie wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen, opfern oft ihr letztes Geld, um das Nötigste für den Einsatz an der Front zu kaufen. Schutzwesten etwa sind begehrt, aber kaum noch zu bekommen oder zu bezahlen. Frauen erzählen, dass sie vom Ersparten ihren Männern Rucksäcke, Medikamente, Thermounterwäsche und warme Socken kaufen.

In oft geteilten Videos im Internet sieht man eine Gruppe von Männern, ein Redner appelliert an die Behörden, etwas zu tun, damit Kredite nicht fällig gestellt werden. Ein andermal steht eine Gruppe an einem Zug der russischen Staatsbahn, die Männer schimpfen, es gebe keine Marschverpflegung. Wieder eine andere Gruppe muss sich von einer Frau in Uniform anhören, die Männer sollten Tampons mitnehmen, um damit Schusswunden zu versorgen. Auch Erste-Hilfe-Sets sind Mangelware.

Aber die Reservisten klagen auch, es gebe teils nicht einmal einen Helm oder eine Waffe. „Sie haben Kleidung gegeben, Schuhe, eine Gasmaske und einen Spaten“, erzählt Alexej dem unabhängigen Internetportal istories.media. Von seinem eigenen Geld hat er sich dann noch einen Schlafsack, eine Isomatte und Armeestiefel für den Winter gekauft. Onlinegeschäfte, aber auch Läden für Militär- und Outdoorbedarf berichten über leere Lager.

Die Unruhe ist so groß, dass sich in Russland längst auch Gouverneure und Parlamentsabgeordnete wegen der Probleme bei der Mobilmachung einschalten. Entsetzt äußerte sich etwa der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow, Mitglied im Verteidigungsausschuss: Anderthalb Millionen Sätze persönlicher Ausrüstung seien verschwunden, und niemand erkläre wieso. Kremlchef Wladimir Putin hat zwar den für die Ausrüstung der Streitkräfte zuständigen Vize-Verteidigungsminister Dmitri Bulgakow gefeuert. Guruljow beklagt aber, dass damit nicht geklärt sei, „warum die Einberufenen keine Uniformen bekommen“.

Gouverneure kaufen inzwischen am Budget des Verteidigungsministeriums vorbei teils selbst Ferngläser und Nachtsichtgeräte für die Einberufenen. Der prominente Abgeordnete Leonid Sluzki donnerte: „Es ist ein Schande.“ Manchmal fehlten sogar Munition und Waffen. Zudem klagen Einberufene, der in Aussicht gestellte Wehrsold - je nach Region - zwischen 100 000 und 300 000 Rubel (1600 und 4900 Euro) komme nicht oder spät.

Während Hunderttausende außer Landes geflohen sind, fügen sich viele andere ihrem Schicksal. Es gibt Russen, die entschlossen für Putins Ziele kämpfen in der Ukraine. Aber viele dienen nur, weil sie Flucht oder den Gang ins Gefängnis nicht für Alternativen halten. Immer wieder hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die russischen Einberufenen aufgefordert, sich nicht als „Kanonenfutter“ für Putin zu opfern; sie sollten sich an der Front ergeben und freiwillig in Gefangenschaft gehen.

Inzwischen aber lähmt die Angst viele, sie trauen sich kaum noch auf die Straße. Die in Russland vielerorts eingesetzte Videoüberwachung soll laut Behörden jetzt auch helfen, Kriegsdienstverweigerer zu finden. In der Hauptstadt Moskau fällt auf, dass die Straßen, Restaurants, Fitnessclubs leerer sind als vor der Teilmobilmachung - wie das öffentliche Leben insgesamt. Dabei mehren sich inzwischen auch Meldungen, dass viele Einberufene kaum an der Front ankamen und nun schon unter der Erde sind.

Mit Entsetzten reagierten in der vergangenen Woche sogar russische Staatsmedien, als bekannt wurde, dass ein leitender Angestellter der Moskauer Stadtregierung ohne jedwede Kampferfahrung in die Ukraine geschickt wurde. Der 28 Jahre alte Alexej Martynow, der am 23. September einberufen wurde, starb an der Front am 10. Oktober. Wie so etwas sein könne, fragte ein kremlnaher Journalist Putin am vergangenen Freitag bei einer Pressekonferenz in Astana (Kasachstan). Er verwies auch auf die sich insgesamt häufenden Todesnachrichten.

Doch über die getöteten Männer aus Tscheljabinsk und vielen anderen Orten, die in Särgen zurückkehren, verlor Putin kein Wort. Er betonte vielmehr, dass 220 000 Reservisten von den geplanten 300 000 bereits eingezogen seien. Zehntausende seien schon in ihren Einheiten an der Front. Putin meinte zwar auch, dass die Vorbereitungsphasen für den Einsatz im Kampfgebiet eingehalten werden müssten. Er musste zuletzt aber immer wieder Fehler bei der Mobilmachung einräumen.

In etwa zwei Wochen, auch das sagte Putin in Astana, solle die „Teilmobilmachung“ abgeschlossen sein. Und er erklärte einmal mehr, dass die Einberufenen vor allem die 1100 Kilometer lange Frontlinie in der Ukraine sichern sollten. „Damit hängt die Mobilmachung zusammen.“ Weil diese Linie aber kaum jemals sicher sein dürfte, erwarten viele Russen, dass weitere Mobilisierungswellen folgen.

Auch nach fast acht Monaten Krieg macht Putin keine Anstalten, das Blutvergießen zu beenden. In Astana wurde Putin nicht zuletzt gefragt, ob er bedauere, die in Russland offiziell so bezeichnete „Spezialoperation“ in der Ukraine begonnen zu haben. Aber Reue erwartete da niemand von ihm. Was heute passiere, sei zwar „wenig angenehm“, wäre aber später nur noch schlimmer gekommen, sagte Putin. „Also sind meine Handlungen richtig und angemessen.“

Stefanie Heitmann