Unser Olympia-Reporter Jürgen Kemmner beschreibt in seiner Kolumne, wie die bei Olympia die ach so strengen Regeln auch schnell mal angepasst werden.
Passen Regeln nicht zur Realität, sind sie gar hinderlich, passt man sie an. Per Verkündung. „Der Bus fährt erst ab, wenn alle Plätze belegt sind!“, ruft der Helfer in Olympia-Kluft. Eigentlich sollen mehrere Busse die Reporter nach der Eröffnungsfeier ab 23 Uhr im Halbstundentakt von Peking nach Yanqing und Zhangjiakou transportieren, doch es stehen nur zwei bereit. Die aber werden vollgepresst – dass Corona-Abstandsvorgaben konterkariert werden? Geschenkt. Sonst muss in Bussen in Zweierreihen stets ein Sitz frei bleiben, Aufkleber auf den Rückenlehnen weisen energisch darauf hin. Doch offenbar gilt auch in China „Not kennt kein Gebot“, als stelle das Virus dann keine Gefahr mehr dar. Tags zuvor hatte ein Fahrer zwei Personen gestenreich aufgefordert, sich zu separieren, sonst werde er nicht losfahren.
Man muss in China in den Schafsmodus wechseln: Anweisungen ohne denken befolgen und alle Gegebenheiten akzeptieren. Besonders im Transportwesen. Eine deutsche Kollegin, die mit dem Organisationskomitee in Kontakt steht, hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Busse zu selten fahren und das System schwer überschaubar sei. „Natürlich könnten die das anpassen“, erzählt sie, „aber man spürt: Sie wollen das nicht.“ Die olympische Freizügigkeit soll schließlich nicht erleichtert, sondern erschwert und eingeschränkt werden. Es ist nicht erwünscht, dass Reporter zwischen den Wettkampfzonen Peking, Yanqing und Zhangjiakou pendeln, sie könnten das Virus exportieren – obwohl sie ja täglich getestet werden. Deshalb wurden zur Eröffnungsfeier Fahrpläne nicht erweitert, sondern knapp gehalten, obwohl die bereits erwähnte Kollegin dies „mit Nachdruck gefordert“ hatte. Irgendwann stellte dann auch sie in den Schafsmodus.
Zwar werden Olympia-Taxis angeboten für den Fall, dass der Busplan nicht mit dem persönlichen Zeitmanagement kompatibel ist. Aber wer bei „Taxi“ glaubt, das stehe zehn Minuten später bereit, der irrt sich wie Radsport-Fans die glaubten, Lance Armstrong sei sauber gewesen. Das Olympia-Taxi soll 24 Stunden im voraus gebucht werden, kurzfristig geht das auch, aber mit einer Wartezeit von mindestens 90 Minuten muss gerechnet werden. Die Taxis, die in sichtbarer Entfernung warten, dürfen ohne Bestellung über eine App nicht spontan ein paar Fahrgäste von A nach B bringen. Womöglich muss bei einer Buchung erst vermerkt werden, wer wann wieso wohin reisen will. Man weiß es nicht, man ahnt: Der große chinesische Bruder hat seine Augen und Ohren überall.
Dass es auch Spontaneität im Busgewerbe gibt, darf an dieser Stelle jedoch nicht verheimlicht werden. Als ein Fahrer bei einem geplanten Halt auf der Fahrt von Peking nach Yanqing beim Rangieren die Heckscheibe zertrümmerte, setzte er die Fahrt dennoch fort. Bei minus zehn Grad. Aber: Alle haben es ohne Schaden überstanden – im Schafsmodus geht eben so einiges.