Am Montagvormittag steht Anna Kassautzki auf dem Greifswalder Markt und erzählt von der Feier in der Nacht zuvor. Die SPD-Politikerin hat geschafft, was die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel ein paar Tage zuvor auf demselben Markt noch verhindern wollte. Die CDU-Politikerin hatte hier vergangene Woche „Arrivederci“ gesagt und für ihren Nachfolger als CDU-Direktkandidat zur Bundestagswahl, Georg Günther, geworben - letztlich vergeblich.
Nach mehr als 30 Jahren ist das Direktmandat in Merkels bisherigem Wahlkreis erstmals nicht an die CDU gegangen. Stattdessen wird die 27-jährige Kassautzki, die zum linken Flügel der SPD gehört, den Wahlkreis 15 in Vorpommern künftig mit einem Direktmandat in Berlin vertreten. „So ganz realisiert hab ich's, glaub ich, noch nicht“, sagt Kassautzki am Tag nach der Wahl. „Es ist eine krasse Ehre, es ist aber auch eine Verantwortung“. Sie freue sich darauf.
23,6 Prozentpunkte hat die CDU bei den Erststimmen im Wahlkreis 15 im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl verloren. Da half anscheinend auch Merkels ausgiebige Abschiedstour in den Tagen vor der Wahl nichts - trotz Besuch eines Vogelparks, bei dem sich ein Papagei auf den Kopf der Kanzlerin setzte, weitere auf die Hände. Die Bilder gingen um die Welt.
Die SPD holte am Sonntag alle sechs Bundestagsdirektmandate im Nordosten. In Merkels bisherigem Wahlkreis konnte die SPD ihr Erststimmenergebnis im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 um 12,7 Prozentpunkte verbessern. Bei der parallel abgehaltenen Landtagswahl deklassierte die SPD die übrigen Parteien, die CDU sackte auf einen historischen Tiefstand ab. „Die Leute haben Bock auf eine andere Politik“, sagt Kassautzki. Sie wünschten sich eine soziale Politik. Soziale Ungerechtigkeit und Angst vor der Zukunft spielten bei den Menschen eine große Rolle.
Michael Rabba