Ute Teichert, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, spricht sich ebenfalls für das Festhalten an der Sieben-Tage-Inzidenz aus: «Der Wert hat sich als ein Parameter durchgesetzt, den man gut als Grundlage für weitere Daten-Auswertungen nehmen kann», sagte sie der dpa. Er sei in viele weitere Berechnungen und Simulationen eingeflossen und stelle eine Grundstruktur dar, um die Lage zu beurteilen. Es ergebe wenig Sinn, «da nun noch neue Werte aufzupfropfen». Beim Beurteilen einer lokalen Lage behalte man natürlich auch die Kliniken im Blick, so Teichert.
Einer häufigen Behauptung widerspricht sie: «Die Inzidenz ist keine Maßeinheit für die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter. Eine Größe, die beschreibt, bis zu welcher Schwelle die Kontakte von Infizierten noch nachverfolgt werden können, gibt es bisher nicht.» Wie gut die Kontaktnachverfolgung gelinge, sei sehr unterschiedlich - je nachdem, wie die Ämter aufgestellt sind und je nach Zahl der Kontaktpersonen. «Wenn Kontaktbeschränkungen gelten, gibt es weniger Kontaktpersonen nachzuverfolgen, entsprechend können wir das auch bei höheren Inzidenzen leisten», sagte Teichert. «Wenn aber alles geöffnet ist, haben die Menschen viele Kontakte und wir kommen schon bei niedriger Inzidenz kaum mehr hinterher.»
Nun greift also ab einem Inzidenzwert von 100 regional die Notbremse. Hat es für die Kommunikation mit Bürgern Vorteile, auf bestimmte Zahlen zu setzen? Markus Schäfer, Sprecher der Fachgruppe Gesundheitskommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, verneint: «Ich würde auch davor warnen, einen Wert in ein Gesetz zu schreiben, in der Annahme, es sei leichter zu kommunizieren», sagte der Wissenschaftler der Uni Mainz.
Wichtig sei vielmehr, dass politische Entscheidungen nachvollziehbar seien. Sie hätten sich in Deutschland jedoch losgelöst vom Sachstand, kritisierte Schäfer. Die für die Schulen festgelegte Inzidenzschwelle von 165 zum Beispiel sei nicht wissenschaftlich begründet. Für Schäfer zeigt das, dass klassische politische Mechanismen wie Kompromissfindung in der Pandemie an Grenzen stoßen.
Auch das Ringen um noch verträgliche Werte - vor nicht allzu langer Zeit war noch von den Sieben-Tage-Inzidenzen 35 und 50 die Rede - hat aus Sicht Schäfers zum Vertrauensverlust in die Politik beigetragen. Laut der sogenannten Cosmo-Erhebung ist es vor allem seit Mitte Februar rapide gesunken. Schäfer verweist auch auf das in der Umfrage ermittelte nachlassende Wissen über die Corona-Regeln insgesamt: «Die Leute verstehen es nicht mehr.»