Letztes Update:
20230806142904
Michael Merten Aus Schlaglöchern wurden Teiche.
Michael Merten Ein entspannter Tag.
Michael Merten Die historische Festung Chotyn.

Tag 37 - Ein unvergesslicher Empfang in Vinnytsia

14:00
06.08.2023

Es ist Sonntagnachmittag, der 6. August, es ist verdammt heiß und ich liege mit Kopfschmerzen im Bett. Die letzten Tage waren unglaublich eindrucksvoll, aber auch anstrengend. Jetzt ist ein Ruhetag, den ich damit verbringe, Posts zu posten, Texte zu schreiben und die letzten Tage bis Kiew zu planen. Abwechselnd tippe ich auf meinem Handy herum und schließe für eine Weile die Augen. Hätte ich doch nur ein Notebook mitgenommen... Aber da sind ja schon 40 Kilo Rad und Gepäck...

Normalerweise folgen diese Einträge einer inneren Dramaturgie, aber jetzt will ich einfach mal der Chronologie der vergangenen Tage folgen. 

Der Mittwoch begann imposant: Mein Weg führte mich an den Fluss Dnister und zur beeindruckenden Festung Chotyn aus dem 15. Jahrhundert. Hier fanden zahlreiche Schlachten statt. Während ich im Burghof sitze und lese, wann und wie erbittert Slawen, Moldauer, Polen, Osmanen, Kosaken, Russen und Österreicher um die Region kämpften, schreibt mir eine Freundin aus Kyiv, dass sie jetzt auch lieber hier wäre. „Heute Nacht war es laut.“

Von Chotyn aus geht es weiter, einen ganzen Tag lang kämpfe ich mich über schlechte Straßen und viele Steigungen zum Ufer des Dnister. An der Bakota Bay ist der aufgestaute Fluss ein Paradies für Camper. Hier lagert auch eine Katamaran-Expedition, die seit fast vier Jahrzehnten jeden Sommer unterwegs ist und zu der mich Iryna, eine Freundin aus Kyiv, eingeladen hat.

Die Expedition wird von Kapitän Valentyn Stetsyuk geleitet, dem man seine 87 Jahre nicht ansieht. Er stammt aus dem Donbass und begrüßt mich in fließendem Deutsch. Der promovierte Elektroingenieur, der auch in Linguistik und Ethnologie geforscht hat, ist der Gründer der Expedition und wird von allen nur Kapitän genannt. Jeden Morgen ruft er die Teilnehmer mit seiner Trompete zusammen, dann wird feierlich die Flagge gehisst, die Nationalhymne gesungen und gefrühstückt. 

Hier raste ich zwei Nächte. In angenehmer Gesellschaft kann ich einen ganzen Tag lang entspannen, gut essen, auf dem Fluss paddeln, den lokalen Wein „Die Tränen des Bären“ genießen und spätabends bei Mondschein im angenehm warmen Fluss schwimmen. Selten habe ich danach so gut geschlafen.

Am Freitagmorgen geht es weiter. Es ist heiß, die Straßen sind löchrig und ich muss mich ganz schön anstrengen, bis ich schließlich im Dunkeln um 22 Uhr in Bar ankomme, wo mich Oksana in ihrem Öko-Ferienhaus empfängt. Trotz der späten Stunde kocht sie noch etwas für mich. Ihr Mann und ihr Sohn sind im Krieg. „Ich bete jeden Tag, dass sie heil zurückkommen“, erzählt sie. Viele Menschen seien müde geworden, es sei schwer, so zu leben, aber sie habe die Hoffnung nicht aufgegeben. 

Dass ich Oksana gefunden habe, verdanke ich Olexandr. Von meinen ukrainischen Helfern angesprochen, organisierte er meine Übernachtungen auf dem Weg nach Vinnytsia und einen Empfang am Samstagnachmittag. Bereits 30 Kilometer vor der Stadt werde ich von zwei Rennradfahrern abgeholt und bis an den Stadtrand begleitet. Dort staune ich nicht schlecht, als mich etwa 30, 40 Menschen begrüßen, darunter viele Jugendliche mit Rennrädern, die mich auf den sieben Kilometern bis ins Stadtzentrum begleiten. 

Dyakuyu Vinnytsia! Danke Vinnytsia, ich bin immer noch schwer beeindruckt von so einem Empfang. Überall schlägt mir Dankbarkeit entgegen. Nach der Begrüßung durch den Sportbeauftragten der Stadt wird mein Rad in einem der coolsten Fahrradläden, die ich je gesehen habe, durchgecheckt. Während ich ein frisch gezapftes Bier genieße, bekomme ich einen neuen Satz Bremsbeläge. Außerdem wird eine kleine Acht aus dem Vorderrad entfernt. Die wilde Fahrerei der letzten Tage hat ihre Spuren hinterlassen...

Olexandr hat vor dem Krieg leidenschaftlich gerne Veranstaltungen organisiert. Beim gemeinsamen Abendessen zeigt er mir Fotos davon. Wehmütig sagt er, dass er dank meines Besuchs zum ersten Mal seit einem halben Jahr den ganzen Mist der aktuellen Situation ausblenden konnte. 

Mit einer Ausnahme: Vor dem Abendessen führt mich Olexandr in den altehrwürdigen Konzertsaal aus Sowjetzeiten. Doch von dem Gebäude stehen nur noch die Grundmauern, es ist ein Trümmerfeld, seit es im Juli 2022 von russischen Raketen getroffen wurde. Getroffen wurde auch ein benachbartes Krankenhaus. An jenem 14. Juli wurde dort Olexandrs guter Freund Boroda behandelt, der gerade von der Front zurückgekehrt war. Er starb, wie 27 weitere Menschen, darunter drei Kinder.

Ein weißes Denkmal aus Friedenstauben mit den Gesichtern der Toten erinnert an die Opfer. Während wir dort verweilen, legt jemand frische Blumen nieder. Auch einige zurückgelassene Teddybären zeugen davon, wie sehr diese Menschen fehlen. Es sind Einzelschicksale in diesem brutalen Krieg, der täglich neues Leid bringt.

Michael Merten