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Tag 19: Spaziergang mit Paulette Lenert an der Mosel

09:06
12.07.2023
Am Morgen des 23. März 2021, nach einem angespannten Zoom-Meeting mit dem Parlament, verließ Gesundheitsministerin Paulette Lenert ihr Haus, setzte sich ins Auto und fuhr von Remich nach Nennig, am deutschen Moselufer. Sie weiß nicht mehr, was dann geschah – nur dass sie am späten Nachmittag am Ufer eines Weihers aufwachte, staubbedeckt und vor Kälte zitternd. Sie stand auf und bat einen Angler um Hilfe, der eilig die deutschen Behörden verständigte.

Als sie im Krankenhaus ankam, gab es alle möglichen Gerüchte. „Ich bringe Sie zu dem Ort, an dem alles passiert ist“, erzählt sie mir, als wir uns in Remich trafen. „Dies ist das erste und einzige Mal, dass ich über den Fall sprechen werde. Aber ich möchte klarstellen, dass ich nie versucht habe und auch nie versuchen würde, mir das Leben zu nehmen.“

Am 19. Tag von „Luxembourg on Foot“ sollte mich der Weg eigentlich von Remich nach Schengen führen. Aber ich plante noch einen zweieinhalbstündigen Spaziergang entlang des deutschen Moselufers mit der Vizepremierministerin ein. Lenert tritt bei den Chamberwahlen im Oktober als Spitzenkandidatin der Sozialisten an. Der Weg, den wir gemeinsam gingen, ist derselbe, den Lenert seit sechs Jahren jeden Tag frühmorgens mit Leidenschaft beschreitet.

„Seit ich in diese Region gezogen bin, verpasse ich es nur selten, diesen Spaziergang zu machen. Es sind zwei Stunden meines Lebens, die mir helfen, nachzudenken und meine Gedanken zu ordnen. Ich war schon immer so, ich beobachte lieber, als in Eile zu reden. Das Gehen hilft mir dabei.“ An dem Tag, an dem die Grenzen des Landes geschlossen wurden, waren ihre Gefühle gemischt. „Ich wusste, dass es richtig war, aber mir wurde auch klar, dass ich mir damit mein größtes Vergnügen versagte. Die Tiere mitzunehmen und mit ihnen im Wald spazieren zu gehen.“

Lenert legte einen glänzenden Start im Gesundheitsministerium hin. „Ich hatte das Ressort im Februar 2020 übernommen, wenige Wochen bevor die Pandemie begann. Es war schwierig, zu erkennen, dass ich mich mit einer potenziellen Sterblichkeit in einem Ausmaß befassen musste, wie ich es noch nie erlebt hatte. Aber ich bereue keine der Maßnahmen, die ich ergriffen habe, und ich bin sehr stolz darauf, wie die Menschen in Luxemburg zusammenkamen und Verantwortung übernahmen. Das war außergewöhnlich.“

Zu Beginn des Jahres 2021 lief das Leben nicht gerade gut für sie. Einer ihrer Hunde starb, dann eine Katze, und heute hat sie nur noch Schmit, der sie auf Schritt und Tritt begleitet. „Ich war auch von meinem Partner getrennt, das war eine harte Zeit. Aber das hat mich nie davon abgehalten, meine Arbeit gut zu machen. Ich habe Ideen für mein Land, ich will es verbessern und ich habe die Kraft, dafür zu kämpfen. Aber an diesem Tag im März kam alles zusammen. Und so tat ich, was ich tun sollte: Ich kam an meinen üblichen Platz, um meine Gedanken zu ordnen – und dann kam der Blackout. Ich glaube, ich bin vor Erschöpfung zusammengebrochen. Ich hatte monatelang für das Leben meiner Mitbürger gekämpft. Doch dann kam ein Moment der Erschöpfung. Ich musste mich ein paar Tage lang ausruhen. Danach ging es mir wieder gut.“

Die Unterstellung, sie habe versucht, sich das Leben zu nehmen, macht sie wütend. „Können Sie sich vorstellen, wie sich meine Töchter und meine Familie gefühlt haben, als sie das gelesen haben?“ Lenert weist auch die Darstellung zurück, sie habe Schwäche gezeigt, weil sie einige Wochen lang krankgeschrieben war. „Ich glaube, es ist einfacher, wenn sich dieser Diskurs gegen eine Frau richtet“, sagt sie, während sie selbstbewusst zum Ufer eines Sees schreitet. „Aber ich bin immer noch bereit für den Kampf. Es wäre eine Ehre, die erste Frau an der Spitze der Regierung in diesem Land zu sein.“

Lenert geht voran und deutet plötzlich auf die Stelle, an der sie damals ihr Auto geparkt hat, und dann auf jenen Platz, wo sie wieder zu sich gekommen war. „Es war hier. Hier hatte ich einen Blackout. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Jeder kann mal ausbrennen. Wir alle haben das Recht, müde oder traurig zu sein. Das zu leugnen, hieße, unser Menschsein zu verleugnen.“

(Ricardo J. Rodrigues, übersetzt von Jörg Tschürtz)

Jörg Tschürtz