Auf den Staat müssen wir uns verlassen können. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. So definiert es Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Der Staat soll allen Menschen in unserem Land vor allem eines geben: Freiheit und Sicherheit. Also die Gewissheit, sich auch in individuellen Notlagen auf die Solidarität der Gesellschaft – vermittelt durch den Staat – verlassen zu können. Der Sozialstaat ist das Versprechen an jeden Bürger und jede Bürgerin: Wir lassen Dich nicht im Stich. Dazu gehört: Wenn ich krank bin, muss ich angemessen behandelt werden, ob ich in der Stadt wohne oder auf dem Land; Ich bekomme gute Pflege im Alter, wenn ich sie benötige und ich stürze nicht ins Bodenlose, wenn ich meinen Job verliere.
Mich treibt die Frage um: Vertrauen wir diesem Versprechen sozialer und solidarischer Absicherung noch?
Ich meine: Unser soziales Sicherungssystem hat ein Vertrauensproblem. In Teilen unserer Gesellschaft wird insbesondere „Hartz IV“ nicht als Absicherungsversprechen empfunden, sondern als Bedrohung. In einer aktuellen Umfrage haben sich 60 Prozent der Befragten für grundsätzliche Änderungen ausgesprochen. Wenn ein Instrument, das doch vor allem eines der Fürsorge ist, in unserer Gesellschaft Ängste auslöst, stimmt etwas nicht.
Der Berliner Bürgermeister Michael Müller hat mit dem solidarischen Grundeinkommen einen guten Diskussionsbeitrag geliefert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wird mit der Ausgestaltung eines sozialen Arbeitsmarktes – also der öffentlich geförderten Chance auf bezahlte Erwerbsarbeit auch für Menschen, denen das auf Anhieb nicht gelungen ist – einen großen Schritt in diese richtige Richtung gehen. Dabei bleibt das Prinzip des Förderns und Forderns richtig und wird auch durch ein solidarisches Grundeinkommen nicht in Frage gestellt. Wenn das Fordern aber als Bedrohung empfunden wird, ist das ganze Instrument nicht austariert. Diese gesellschaftliche Debatte müssen wir als SPD führen: Nicht als Vergangenheitsbewältigung, sondern mutig und in die Zukunft gewandt.
Doch die Debatte muss noch größer sein. Ich bin überzeugt, Bürgerinnen und Bürger müssen sich– unabhängig vom Einkommen – auf den Staat verlassen können. Das Vertrauen in dessen Handlungsfähigkeit ist zentral für die Akzeptanz unserer demokratischen Grundordnung. Deshalb ist die Sozialstaatsdebatte nur ein Baustein. Wir brauchen ein neues Bündnis von uns Bürgerinnen und Bürgern mit unserem Staat. Dazu gehört ein starker Staat, der investiert.
Die höchsten Sozialtransfers helfen nicht, wenn Kinder in Deutschland keine Schultoiletten benutzen wollen. Sie helfen nicht, wenn Pendler im Stau stehen. Und sie helfen nicht, wenn Menschen sich die Miete nicht leisten können. Ein funktionierender Staat muss für soziale Sicherheit im weiten Sinne sorgen und dazu gehören auch funktionierende Straßen und Nahverkehre, ordentliche Schulen und gute Universitäten, ausreichend Polizei und Justiz, um die öffentliche Ordnung zu sichern, und nicht zuletzt: bezahlbarer Wohnraum. Seine Bleibe noch bezahlen zu können, ist für mich ohnehin die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. All diese Dinge gehören zusammen und greifen ineinander.
Die SPD als progressive Volkspartei muss über das richtige und notwendige Regierungshandeln hinaus Antworten geben und Visionen entwickeln. Ein starker Staat, der die Schwachen schützt und für Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit sorgt, ist die Grundbedingung für neues Vertrauen. Über die Ausgestaltung müssen wir mit allen Teilen der Gesellschaft reden.
Was ist unsere Vision eines sozialen Staates in 20, 30 oder 40 Jahren? Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Um all diese Fragen beantworten zu können, werden wir Diskursräume eröffnen, die eine Zukunftsdebatte über Schlagworte wie „Hartz IV“ hinaus ermöglichen. Ich bin überzeugt: Nur die SPD kann einen solchen mutigen Gesellschaftsentwurf liefern. Und das werden wir.