Letztes Update:
20200430184122

Empörung über Aussagen zu Corona-Patienten - Palmer entschuldigt sich

17:23
28.04.2020
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer meint, dass die Corona-Beschränkungen vor allem Menschen helfen, die ohnehin bald sterben - und provoziert mit seinen Äußerungen eine Welle der Entrüstung. Am Abend rudert er zurück.

Mit drastischen Worten zum Umgang mit Corona-Patienten hat der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer parteiübergreifend für Empörung gesorgt - und sich später entschuldigt. «Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären», sagte der Grünen-Politiker am Dienstag im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Eine Welle der Kritik brach los, auch aus seiner eigenen Partei. Am Abend ruderte Palmer zurück. «Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen», erklärte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Falls er sich «da missverständlich oder forsch ausgedrückt» habe, tue es ihm leid.

Palmer hatte in der Fernsehsendung erneut eine Lockerung der Corona-Maßnahmen gefordert. Es müsse unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Junge und Ältere geben. Ihm zufolge handelt es sich bei dem Großteil der an einer Corona-Infektion Gestorbenen um Menschen mit schweren Vorerkrankungen, die ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Seiner Meinung nach sind die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns gravierender und könnten etwa zusätzlich das Leben armutsbedrohter Kinder kosten.

Der Direktor des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Universität Ulm, Dietrich Rothenbacher, betonte dagegen, dass es auch bei jüngeren Erwachsenen schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung gebe. Laut einer Studie aus China starben in einer Patientengruppe von 35- bis 58-Jährigen 8,1 Prozent. «Die Gefährlichkeit einer Erkrankung kann auch nicht nur an der Zahl der absoluten Todesfälle festgemacht werden, sondern in der Tat sollte die Anzahl der verlorenen Lebensjahre benannt werden», so Rothenbacher. Diese Zahlen gebe es für Covid-19 noch nicht.

Für seine Worte wurde Palmer heftig kritisiert. Der Grünen-Politiker schüre Ängste von Millionen alter Menschen, sagte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Jetzt seien öffentliche Amtsträger gefordert, das Bewusstsein für Solidarität zu stärken.

Der baden-württembergische FDP-Vorsitzende Michael Theurer sagte: «Ich rate Boris Palmer dringend, sich zu entschuldigen und diese Äußerung zurückzunehmen. Er ist nicht nur wie sonst manchmal über das Ziel hinausgeschossen, sondern erheblich entgleist.»

Der Generalsekretär der Landes-CDU, Manuel Hagel, sagte, der Grünen-Politiker hetze Generationen gegeneinander auf. Dessen Aussagen strotzten vor Verachtung für die Älteren in der Gesellschaft. Der baden-württembergische SPD-Generalsekretär Sascha Binder und sein Parteikollege, der Tübinger Bundestagsabgeordnete Martin Rosemann, nannten Palmers Äußerungen «menschenverachtend».

Harsche Kritik kam auch aus Palmers eigener Partei. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn bezeichnete Palmers Position auf Twitter als «sozialdarwinistisch». Palmer beteilige sich mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte, distanzierte sich das Vorsitzenden-Duo der Landes-Grünen, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand.

Palmer erklärte am Abend: «Ich habe darauf hingewiesen, dass die Methode unseres Schutzes so schwere Wirtschaftsschäden auslöst, dass deswegen viele Kinder sterben müssen. Das will ich nicht hinnehmen und fordere einen besseren Schutz unsere Risikogruppen ohne diese Nebenwirkungen.»

(dpa/lsw)

Lucha: Pflegeheime sollten Ausnahmeregelungen für Besuche nutzen

16:33
28.04.2020
Das soziale Leben von Menschen in Pflegeheimen ist in der Corona-Krise stark eingeschränkt. Aber es gibt strenge Ausnahmen vom Besuchsverbot. Die sollten genutzt werden, sagt der Sozialminister. Und ein erster Träger will das auch tun.

Keine Besuche und kaum Austausch, keine Verwandten halten die Hand, Gespräche sind nur am Telefon möglich. Für Senioren in Pflegeeinrichtungen sind die Folgen der strengen Corona-Auflagen erheblich. Und nur wenige Heime haben bisher die Verantwortung übernommen und Besuche unter strengsten Auflagen genehmigt. Nach Ansicht des baden-württembergischen Sozialministeriums sollten die Träger der Einrichtungen dagegen versuchen, Ausnahmeregelungen zu nutzen, sofern das möglich ist. Auch andere Rufe nach einer Öffnung werden lauter. Und erste Konsequenzen sind bereits angekündigt.

«Wir wollen ganz vorsichtig Kontakte wieder anbieten», sagte Sozialminister Manne Lucha (Grüne) am Dienstag in Stuttgart. Allerdings sei der Grat zwischen Risiko und Lockerung sehr schmal. Konzepte für weitere Lockerungen sollen «in Kürze» vorgelegt werden, kündigte der Minister an. Details oder einen konkreten Zeitplan nannte sein Ministerium nicht, es konkretisierte aber Angaben aus dem Haus vom Vortag.

Eine Arbeitsgruppe berät demnach Schritte und Handlungsempfehlungen. Die Erfahrungen der vergangenen Wochen haben nach Auskunft des Sozialministeriums aber gezeigt, dass auch vom bisherigen Besuchsverbot nur selten eine Ausnahme gemacht wird. «Dies ist auch nachvollziehbar, insbesondere zu Beginn der Infektionswelle, wo alles unternommen werden musste, um einen Infektionseintrag in die Heime möglichst zu vermeiden», heißt es.

Doch mittlerweile habe sich in den Häusern vieles eingespielt. «Deshalb hat man die Einrichtungsträger, auch im Hinblick auf die künftigen geplanten Lockerungen, nunmehr explizit ermutigt, von den bestehenden Ausnahmeregelungen Gebrauch zu machen», sagte eine Sprecherin des Ministeriums. Den Einrichtungen solle damit auch die Sorge genommen werden, dass sie falsch handeln könnten, wenn sie Besuche genehmigten.

Die Evangelische Heimstiftung, einer der größten Träger von Alten- und Pflegeheimen in Baden-Württemberg, sieht das ähnlich. Sie will das Besucherverbot in ihren Einrichtungen ab dem 4. Mai lockern. Es gebe inzwischen «praktische Erfahrungen damit, wie die Ausbreitung des Virus mit einem verantwortungsvollen und vorausschauenden Krisenmanagement eingegrenzt werden kann», sagte Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider der «Heilbronner Stimme» und dem «Mannheimer Morgen» (Mittwoch). Daher sei es «richtig und sinnvoll, über eine schrittweise, verantwortungsvolle Öffnung für Pflegeeinrichtungen zu sprechen». Für die Evangelische Heimstiftung betreuen im Südwesten aktuell rund 9200 Mitarbeiter in 86 Einrichtungen insgesamt etwa 5960 Bewohner.

Nach Ansicht der SPD schiebt das Sozialministerium die Verantwortung lediglich auf die Heimleitungen ab. Die Landesregierung erlasse ein grundsätzliches Besuchsverbot, überlasse Lockerungen in Einzelfällen und entsprechende Ausnahmen von der Corona-Verordnung aber den Heimträgern. Damit mache sich Lucha «einen schlanken Fuß», kritisierte die Vize-Fraktionsvorsitzende der SPD, Sabine Wölfle. Den Pflegeeinrichtungen werde «der Schwarze Peter» zugeschoben.

Die Regierung müsse zumindest in Beispielen deutlich machen, welche Vorsichtsmaßnahmen eine Ausnahmeregelung rechtfertigen könnten und welche nicht. «Denn wenn über die Ausnahmeregelung ein Virus in das Heim kommt und möglicherweise sogar Menschenleben fordert, geht es ganz schnell um Regress-, Schadenersatz- oder Schmerzensgeldforderungen», sagte Wölfle.

Der Bischof der Evangelischen Landeskirche in Baden, Jochen Cornelius-Bundschuh, setzt sich dafür ein, Lockerungen auf alle Bewohner von Seniorenheimen ohne das Kriterium drohender Schäden auszuweiten. «Das muss für den engsten Kreis, also Ehepartner oder Kinder der Heimbewohner gelten», sagte er. Verwandte in Schutzkleidung und mit Masken einer hohen Schutzstufe müssten die Chance bekommen, die Bewohner in ihren Zimmern zu treffen. Dabei dürften die Besucher nicht auf den Kosten für die vom Heim zur Verfügung zu stellende Ausrüstung sitzenbleiben. Der Theologe mahnte: «Wir dürfen den Schutz der Risikogruppe nicht nur technisch sehen. Wir müssen den Menschen in seiner Gesamtheit im Blick haben.»

Auch der Vorsitzende des Landesseniorenrats, Uwe Bähr, macht sich für eine Öffnung der Heime stark: «Die bisherigen Ausnahmeregelungen sind zu restriktiv gehandhabt worden», sagte er. «Sie sollten offener ausgelegt werden.» Die Gesellschaft müsse verstehen, «dass es in der Natur der Sache liegt, dass etwas passieren kann».

Öffnung ja, aber nur mit ausreichendem Schutz, heißt es beim Paritätischen. Besuche in Pflegeheimen seien möglich, sofern die Schutzkonzepte stimmten. «Schon jetzt gibt es Konzepte in den Einrichtungen, Besuche von Familienmitgliedern zu ermöglichen», sagte Mirko Hohm, der den Bereich Ältere Menschen und Pflege beim Paritätischen Baden-Württemberg leitet. «Das können Begegnungen auf dem Freigelände, vor dem Fenster oder der Veranda sein, immer mit der erforderlichen Schutzausrüstung und dem notwendigen Sicherheitsabstand.» Das Land müsse aber dafür sorgen, dass es ausreichend Schutzausrüstungen und Covid-19 Tests gebe. «So können Ansteckungen verhindert und Besuche ermöglicht werden.»

(dpa/lsw)

Alle externen Inhalte nachladen?
Datenschutzerklärung
nachladen