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Kapitel

Handelsblatt Journal | Prof. Dr. Christian Stummeyer über den Handel von morgen

Der Handel der Zukunft – digitaler, direkter, überraschender

16:24
24.10.2020
Handelsunternehmen stehen vor enormen Herausforderungen: Das Angebot ist in vielen Branchen groß, es gibt neue, oft rein digitale Wettbewerber und Kunden werden zunehmend anspruchsvoller. Erfolgreich sind in Zukunft nur die Händler, die sich diesen Herausforderungen stellen, neue Entwicklungen frühzeitig erkennen und erfolgreich meistern. Wie müssen Handelsunternehmen sich zukünftig aufstellen?

Fünf Thesen zum Handel der Zukunft geben Antwort auf diese Frage. Dabei lohnt es sich zunächst den Blick auf die Kunden der Zukunft zu richten. Die gute Nachricht zuerst: Die Kunden der Zukunft sind bereits geboren – zumindest,  wenn wir auf die nächsten ein bis zwei Dekaden schauen. Und diese Kunden der Zukunft gehören zur Generation der Digital Natives.

Die Kunden der Zukunft im Handel sind Digital Natives
Anders als die vorhergehenden Kundengenerationen, den „Traditionellen Konsumenten“ und den „Digital Immigrants“, zeichnen sich die Digital Natives der Generation X (geboren zwischen ca. 1980 und 1995) und Y (geboren zwischen ca. 1995 und 2010) durch ein signifikant anderes Kommunikations- und Mediennutzungsverhalten aus. Und diese Generationen kaufen auch anders ein. Schon heute ist der Anteil der Ausgaben über digitale Kanäle wie E-Commerce oder Social Commerce bei dieser Gruppe signifikant höher als bei den vorhergehenden Generationen, wie Marktstudien belegen. Seit diesem Jahr ist die Gruppe der Digital Natives zudem in der Mehrheit, wenn man auf die aktive europäische Bevölkerung blickt.

Im deutschen B2C-Geschaft werden bereits heute deutlich über 50 Prozent der E-Commerce-Umsatze über Online-Marktplätze realisiert. Amazon ist hier klarer und unumstrittener Marktführer. In Zukunft werden auch in Deutschland die Marktplatz-Umsatze weiterwachsen. Uber die Hälfte aller Suchanfragen, bei denen Konsumenten eine konkrete Kaufabsicht haben, werden bei Amazon abgesetzt – und nicht etwa bei der Suchmaschine Google. Daher besteht ein großes Absatzpotential, Online-Marktplätze als additiven Vertriebskanal zu nutzen. Tendenziell fällt es Herstellern und starken Marken leichter als Händlern, auf und mit Marktplätzen ein profitables und nachhaltiges Geschäft zu etablieren. Aber auch der Handel hat mit intelligenten Ansätzen eine Chance, hier erfolgreich zu sein.

Neben E-Commerce werden Online-Marktplätze als Vertriebskanal weiter profitieren
Insofern müssen Händler ihre eigene Marktplatz-Strategie entwickeln, nicht nur für Amazon. Dabei gilt es, die relevanten Strategiedimensionen im Marktplatzvertrieb wie z.B. Sortiment, Pricing, Art des Marktplatz-Auftritts und Logistik-Konzept systematisch auszugestalten. Wie dies geschehen und umgesetzt werden kann, wird in der aktuellen Publikation „Amazon für Entscheider – Strategieentwicklung, Implementierung und Fallstudien für Hersteller und Händler“ von Stummeyer und Kober beschrieben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Amazon den Markt zwar dominiert, es mit über 500 Online-Marktplätzen weltweit jedoch reale und ernst-zunehmende Alternativen gibt, die weitere Absatzchancen bieten können. Außerdem können Händler auch den strategischen Schritt gehen und selbst zum Marktplatz werden, wie die Beispiele von Otto und Conrad Electronic zeigen.

Für Händler gilt es, dieses andere Konsumverhalten zu antizipieren, wenn es darum geht, den Handel der Zukunft zu gestalten. Im B2C-Geschaft liegt es nahe, digitale Vertriebskanale wie Webshops, Apps und Social Commerce anzubieten. Die heute bereits existierenden Angebote im B2C fuhren in diesem Jahr in Deutschland zu E-Commerce-Umsätzen von bereits über 60 Mrd. Euro. Nach Studien wird dieser Umsatz bis spätestens 2024 auf über 100 Mrd. Euro steigen. Daher lohnt es sich für viele Händler im B2C verstärkt digital anzusetzen und die Online-Angebote auch mit den stationären Angeboten wirklich intelligent zu verzahnen.

Hersteller werden zu Konkurrenten und verkaufen zunehmend Direct-to-Consumer (D2C)
Nicht nur durch den Vertrieb über Online-Marktplätze werden sich Hersteller in der Zukunft deutlich leichter tun, ihre Produkte digital, eigenständig und unabhängig an Kunden zu verkaufen. Der Trend, selbst Direct-to-Consumer (D2C) zu vertreiben und damit die traditionellen Handelsstrukturen zu umgehen, hat in den letzten Jahren deutlich Fahrt aufgenommen. Nicht nur bekannte Sportartikel-Hersteller wie Nike oder Adidas, die vor einigen Jahren ihre Waren ausschließlich über den (Fach-)Handel vertrieben haben, gehen inzwischen „direkt“ an den Kunden: Beispielsweise über eigene Flagship-Stores in den Fußgängerzonen, eigene Outlets auf der grünen Wiese, eigene Online-Shops und Apps oder eigene Social-Media-Aktivitäten bei Instagram.

Zusätzlich werden, neben den etablierten Brands, zunehmend auch neue D2C-Marken entstehen. Ein Beispiel ist das Fitness-Label Gymshark, das insbesondere durch Social Media-Aktivitäten, Influencer und eigene digitale Kanale jüngst zum Unicorn aufgestiegen ist. Diese erfolgreich gelebten Omni-Channel-Businesses im D2C sind für den Einzelhandel eine zunehmend kritische und existenzbedrohende Entwicklung. Auch hier gilt es, als Händler intelligente Antworten zu finden, beispielsweise durch den Aufbau von für die Zielgruppe passgenauen und angesagten Handelsmarken, die geschickt und intelligent platziert werden.

Der stationäre Handel wird digitaler
Auch im stationären Handel wird es zukünftig zum verstärken Einsatz von digitalen Technologien kommen. Diese Technologien ermöglichen Kunden ein verbessertes Einkaufserlebnis und können heutige Pain Points beim Shoppen beseitigen. Ein Beispiel: Viele Kunden warten nicht gerne an der Kasse. Daher wurden viele ein Geschäft, aus dem man ohne eigentlichen Kassiervorgang einfach herausspazieren kann, bevorzugen. Beim US-Supermarktkonzept Amazon Go ist dies schon heute Realität. Durch Sensorik und Videotechnik im Geschäft werden aus dem Regal entnommene Waren registriert, und beim Verlassen des Ladens wird das Kundenkonto in einer App automatisch belastet. Zudem versetzen digitale Technologien Händler in die Lage, ihre stationären Geschäfte profitabler zu gestalten. Beispielsweise wird der Einsatz von digitalen Beratungssystemen in der Flache zunehmen, um so auf begrenztem Raum umfangreichere Angebote digital anschaulich zu präsentieren.

Künstliche Intelligenz zieht ein: Die richtige Ware kommt einfach
Zusätzlich wird ein weiterer Trend den Vertrieb der Zukunft wesentlich und nachhaltig prägen: Der Einsatz von Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) wird zu signifikanten Veränderungen bei Verkaufsprozessen fuhren. Schon heute können Kunden im Handel durch Chatbots beraten werden, denn KI-Systeme sind in der Lage, Anfragen, die per E-Mail, über ein Kontaktformular oder per Telefon eingehen, durch Sprachverarbeitungs-Algorithmen zu erkennen. Auf Grundlage einer Wissensbasis können sie dann automatisch eine passende Antwort generieren und in natürlicher Sprache ausgeben. Ein 24/7-Kundenservice wird dadurch effizient und maximal skalierbar möglich. Auch bei der Vorhersage von Kundenbedarfen werden zukünftig zunehmend KI-Systeme eingesetzt werden, so dass Händler und nachgelagert auch Hersteller ihre Lagerbestande besser optimieren können. Als Vision ist auch ein „Predictive Selling“ möglich. Hierbei kennen Händler ihre Kunden auf Basis langjährig gesammelter Daten so gut, dass diese einem Kunden auch ohne Bestellung ein Produkt zum richtigen Zeitpunkt einfach in die Wohnung oder das Büro liefern. Denn der Händler weiß, dass der Kunde das Produkt benötigt, welche Markenpräferenz er hat und dass er es sich leisten kann.

Im Idealfall fuhrt dies zu folgendem Zukunftsszenario: Der neue Schnellkochtopf wird morgens geliefert ohne dass der Kunde diesen je selbst geordert hat. Der
Kunde ist überrascht, packt ihn aus und stellt fest, dass das Produkt genau seinen Wünschen und Vorstellungen entspricht – er ist begeistert und probiert ihn gleich am Abend aus. Auch das Probekochen verläuft sehr erfreulich , und der Kunde ist zufrieden mit seinem neuen Küchengerat. Für dieses Szenario müssen sicherlich noch einige Voraussetzungen geschaffen werden im Hinblick auf Datenverfügbarkeit und -nutzung, rechtliche Rahmenbedingungen und Logistiksysteme – doch all dies wird lösbar sein, wenn der Handel dies will.

Dieser kurze Blick in die Zukunft des Handels zeigt, dass es in den nächsten Jahren spannende Entwicklungen in zahlreichen Feldern geben wird. Der Handel wird digitaler, direkter und überraschender. Da der Kunde der Zukunft schon heute bekannt und vieles absehbar ist, müssen Händler handeln: je früher und tatkräftiger, umso erfolgreicher und besser, denn der globale Wettbewerb wartet nicht.

Dieser Artikel ist im neuen Handelsblatt Journal „The Future of Retail“ erschienen, das Sie sich hier kostenlos herunterladen können.

Prof. Dr. Christian Stummeyer, Professor für Digital Commerce, TH Ingolstadt