Die Nervosität vor dem Superwahltag war berechtigt: Die SPD stürzt bei der Europawahl noch weiter ab. Die Union steht nur wenig besser da. Sie kann aber auf Bremen verweisen, wo ein Quereinsteiger ihr das Gesicht wahrt.
Brüssel/Berlin/Bremen (dpa) - Zwei historische Wahlniederlagen für die SPD und gemischte Gefühle bei der CDU: Bei der Europawahl werden beide Berliner Regierungsparteien schwer abgestraft - bei der Wahl des Landesparlaments in Bremen dagegen überflügelt wohl die Union erstmals seit dem Krieg die SPD. Großer Gewinner beider Abstimmungen sind nach den Prognosen die Grünen: Sie lösen zum ersten Mal bei einer bundesweiten Wahl die SPD als zweite Kraft ab und gewinnen als Machtfaktor deutlich an Gewicht. Der Ausgang der Europawahl in der EU insgesamt war am Sonntagabend noch ungewiss.
Bei der Europaabstimmung stürzt die SPD auf ihr schlechtestes EU-Ergebnis überhaupt und bleibt auch noch weit unter ihrem schwachen Bundestagswahlergebnis von 2017. In ihrer einstigen Hochburg Bremen, die sie seit dem Krieg regiert, droht der SPD erstmals der Gang in die Opposition: Rot-Grün ist abgewählt, ein Bündnis mit der CDU haben die Sozialdemokraten ausgeschlossen.
Schwere BelastungFür das Machtgefüge in Berlin bedeutet das erneut eine schwere Belastung. Ungewiss war am Sonntagabend zunächst noch, welche Konsequenzen vor allem die SPD aus den abermaligen Klatschen der Wähler zieht. Bereits vorher stand Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles intern in der Kritik. Zudem ist ein Teil des linken Flügels die ungeliebte große Koalition mit der Union schon lange leid, doch eine vorgezogene Bundestagswahl könnte bei derart schwachen Beliebtheitswerten für die SPD verheerend enden.
Aber auch in der CDU mit ihrer neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer dürfte angesichts des schwachen Abschneidens bei der Europawahl eine Diskussion über die Aufstellung im Bund nicht ausbleiben. Für Anfang Juni hat Kramp-Karrenbauer bereits eine Führungsklausur angesetzt.
Ohnehin ist eine kleine Kabinettsumbildung nötig, weil die EU-Spitzenkandidatin der SPD, Katarina Barley, nach Brüssel wechselt und daher bereits ihren Rückzug als Justizministerin angekündigt hat.
CDU verliertNach den Europawahl-Prognosen von ARD und ZDF für Deutschland (18.00 Uhr) bleibt die Union zwar weitaus stärkste Kraft, verliert mit 27,5 bis 28 Prozent aber im Vergleich zur letzten Europawahl und auch zu ihrem bereits schwachen Bundestagswahl-Ergebnis noch einmal (EU 2014: 35,4 Prozent; Bundestag 2017: 32,9). Die SPD stürzt auf ihr schlechtestes Europawahl-Ergebnis überhaupt und kommt mit 15,5 Prozent nur noch auf den dritten Platz (EU: 27,3; Bundestag: 20,5).
Die Grünen gewinnen kräftig hinzu und fahren mit 20,5 bis 22 Prozent ihr mit Abstand bestes EU-Ergebnis ein (EU: 10,7; Bundestag: 8,9). Die AfD etabliert sich mit 10,5 Prozent (EU: 7,1; Bundestag: 12,6). Die FDP mit 5,5 Prozent hat sich wieder etwas erholt (EU: 3,4; Bundestag: 10,7). Die Linke schwächelt mit 5,5 Prozent (EU: 7,4; Bundestag: 9,2). Die Wahlbeteiligung liegt laut ARD bei 59 Prozent, eine Steigerung um mehr als zehn Punkte.
In Bremen hängt alles von den Grünen abIm kleinsten Bundesland Bremen hängt jetzt alles von den Grünen ab: Wer sie für ein Bündnis gewinnen kann, dürfte Regierungschef werden. Rechnerisch möglich wäre es, dass das bisherige rot-grüne Bündnis um die Linken erweitert wird und der Sozialdemokrat Carsten Sieling doch noch Bürgermeister bleibt. Mindestens genauso gut denkbar wäre aber auch eine Jamaika-Koalition von CDU, Grünen und FDP unter dem CDU-Spitzenkandidaten Carsten Meyer-Heder, einem Unternehmer und politischen Quereinsteiger. Zwar galten die Bremer Grünen einst als linker Landesverband, die Jamaika-Option entspräche aber dem Bestreben der Bundespartei, sich die Türen für ein solches Bündnis im Bund offenzuhalten.
Laut den Bremer Prognosen von ARD und ZDF (18.00 Uhr) büßt die SPD mit 24,5 Prozent (2015: 32,8) erstmals seit 73 Jahren ihren Nimbus als stärkste Kraft an der Weser wohl ein. Die CDU hingegen legt auf 25,5 bis 26,5 Prozent (2015: 22,4) zu und erreicht wieder ihr Niveau von Mitte der 2000er Jahre.
Die Grünen erreichen mit 18 bis 18,5 Prozent (15,1 Prozent) die Stellung, die sie auch im Bund anstreben: Ohne sie geht nichts. Die Linke steigert sich auf 12 Prozent (9,5), die FDP liegt bei 6 (6,6), die AfD bei 5 bis 7 Prozent (5,5).
400 Millionen wahlberechtigtZur Wahl des Europaparlaments waren in den 28 EU-Mitgliedstaaten mehr als 400 Millionen Menschen wahlberechtigt. Das Parlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung und muss etwa dem EU-Haushalt zustimmen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Nachfolge des bisherigen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Um den Posten ringen die christdemokratische Parteienfamilie EVP mit ihrem bisherigen EU-Fraktionschef, dem Deutschen Manfred Weber (CSU), und die Sozialdemokraten mit dem bisherigen Vize-Kommissionspräsidenten, dem Niederländer Frans Timmermans.
In Österreich wird Kanzler Sebastian Kurz, gegen den am Montag im Parlament ein Misstrauensantrag ansteht, bei der Europawahl massiv gestärkt. Laut Trendprognosen kommt seine konservative ÖVP auf 34,5 Prozent - 7,5 Prozentpunkte mehr als 2014. Der Ex-Koalitionspartner, die rechte FPÖ, fällt leicht auf 17,5 Prozent. Die Koalition war an den Folgen eines Skandal-Videos des ehemaligen FPÖ-Vizekanzlers Heinz-Christian Strache zerbrochen. Die SPÖ stagniert auf Rang zwei.
Der EU-Wahlkampf hatte wenig Aufmerksamkeit erregt und war weitgehend konturlos geblieben. Einen Nachhall fanden am ehesten noch die einhelligen Warnungen von Parteien der Mitte und der Linken vor einem Erstarken von Rechtspopulisten und EU-Kritikern. Denn vor allem für sie wurde ein Zuwachs erwartet, besonders in Italien, wo bis 23.00 Uhr noch gewählt werden konnte.
Keine Mehrheit mehrChrist- und Sozialdemokraten dürften im EU-Parlament daher zusammen keine Mehrheit mehr haben, sondern mit Liberalen, Grünen oder Linken zusammenarbeiten. Wer rasch welches Bündnis schmieden kann, wird Einfluss darauf haben, wer Junckers Nachfolge antreten kann. Denkbar ist neben Weber oder Timmermans auch ein dritter Kandidat, weil die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihr Vorschlagsrecht pochen. Bereits am Dienstag wollen sie bei einem Sondergipfel in Brüssel Vorentscheidungen dazu treffen.
dpa